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Aufbruch ins Diesseits

Der erste große Wendepunkt in der abendländischen Malerei kündigt sich Anfang des 15. Jahrhunderts an. Auf einmal beginnen die Europäer, sich selbst und ihre Welt mit anderen Augen zu sehen - und in neuen Bildern festzuhalten. Im ganzen Mittelalter hatten die Maler nur religiöse Bilder gemalt, vor allem Altarbilder. Dabei hatten sie sich nicht um Realismus bemüht, im Gegenteil: sie wollten die Geschichten der Bibel darstellen. Sie stellten die Figuren in abstrakte Architektur oder auf kostbaren Goldgrund - und hoben sie so aus dem irdischen Leben heraus.

Im Jahre 1425 steht das Herzogtum Burgund in höchster Blüte. Herzog Philipp der Gute führt den prächtigsten Hof Europas - und er macht einen jungen Künstler zum hoch bezahlten Hofbeamten. Denn, wie er selber sagt: einen zweiten Maler wie ihn findet man nicht. Jan van Eyck malt vollkommen neue Bilder. Wie niemand sonst kann er die Welt abbilden - und zwar die ganz reale Welt, die die Menschen umgibt.

Wie auf diesem Bild, einst der linke Flügel eines Reisealtars. Es zeigt die Madonna - riesengroß, alles beherrschend - mitten in einer gotischen Kathedrale. Die Kirche hat van Eyck bis ins letzte Detail genau gemalt. Obwohl das Bild klein ist wie ein DIN A4-Blatt, sieht man selbst noch das Maßwerk der Außenwände. Doch auch diese Kirche stellt keine tatsächlich existierende Kathedrale dar: wie auf den mittelalterlichen Bildern ist sie Symbol für die Institution Kirche. Aber Jan van Eyck malt sie so, wie seine Zeitgenossen sie aus ihrem Alltag kennen.

Besonders beeindruckend: das strahlende Licht, das den Raum erfüllt. Sein Glanz steht symbolisch für die Jungfrau Maria. Es ist göttliches, kein irdisches Licht. Daran lässt van Eyck keinen Zweifel: denn Kirchen waren in der Regel von West nach Ost ausgerichtet - die Sonne scheint hier also von Norden durch die Fenster!

Dieses Licht kann Jan van Eyck auch deshalb so leuchtend malen wie niemand vor ihm, weil er eine damals kaum bekannte Technik verwendet: die Ölmalerei. Ihre Wirkung ist so sensationell, dass sich bald Mythen darum ranken.

Stephan Kemperdick, Kustos der Gemäldegalerie:

"Mindestens seit dem 16. Jahrhundert, genauer gesagt in Italien, ging die Mär, dass Jan van Eyck die Ölmalerei tatsächlich erfunden habe, das wurde zum Teil dann ausgesponnen später noch, indem man sich Anekdötchen ausdachte, wie er dazu gekommen sei, in Öl zu malen - von Italien aus musste diese Malerei sehr ungewöhnlich und neu erscheinen, denn in Italien ist es bis ins 15. Jahrhundert ganz üblich gewesen, fast nur in Tempera zu malen. Nördlich der Alpen war das nicht so. Wir wissen inzwischen, dass es im nordalpinen Bereich, zum Beispiel auch in Deutschland, schon im 13. Jahrhundert reine Ölmalerei gibt. Jan van Eyck hat diese Technik allerdings perfektioniert, zu Beginn des 15. Jahrhunderts, und hat sich damit in die Lage versetzt, die feinsten Übergänge und Nuancen, vor allem aber auch tiefsten Schatten und hellstes Licht darzustellen.
Sie haben hier eine Lichtwirkung drin, die hat es vorher überhaupt nicht, noch nicht mal in Ansätzen gegeben - die ist bei Jan van Eyck auf einmal da, und mit Jan van Eycks Tod 1441 ist die im Grunde auch schon wieder weg. Ehrlicherweise muss man eigentlich sagen, dass es keinen zweiten Künstler gibt, der ihm wirklich gleichkommt in dieser Hinsicht. Also, die Art von atmosphärischer Darstellung, die Wiedergabe von Oberflächenbeschaffenheiten und vor allen Dingen Lichteffekten, die Sie hier in der Kirchenmadonna haben - da müssen Sie dann wirklich bis ins frühe, mittlere 19. Jahrhundert warten, bis so etwas wiederkommt. Vorher wird es nicht wieder erreicht."

Aber nicht nur das Licht zeugt von Van Eycks Genie. Auch die Maria selbst ist in einem ganz neuen Stil gemalt: ihr Gesicht ist bei Weitem nicht mehr so stilisiert wie in der mittelalterlichen Malerei - die Madonna wirkt eher wie eine ganz realistische junge Frau.

Noch erstaunlicher zeigt sich dieser neue Realismus hier im so genannten "Bildnis eines feisten Mannes". Es könnte den Edelmann Robert de Masmines zeigen, kurz vor seinem Tod im Jahre 1430. Die feinen Härchen des Pelzkragens - das Doppelkinn - die Bartstoppeln - die Falten um die Augen und auf der Stirn: all das ist meisterhaft dargestellt.

Eine Revolution: ein Bild, das einen Menschen als Individuum zeigt! Im Mittelalter hatte man Personen immer nur in ihrer Funktion gemalt: den König oder den Bischof. Hier aber haben wir den Eindruck, das Bild zeige den Menschen Masmines, wie er wirklich war. Mit solchen Bildern ist eine ganz neue Gattung der Malerei entstanden: das Porträt.

Wer den feisten Mann aber gemalt hat - das wissen wir nicht. Wir bezeichnen den Maler als "Meister von Flémalle". Aber niemand weiß genau, wer das eigentlich war. Man vermutet heute eher eine Gruppe von Künstlern, die in Tournai in der Werkstatt des Meisters Robert Campin arbeiteten.

Sicher ist: dieses Bildnis einer Frau mit Flügelhaube hat um 1435 ein ehemaliger Mitarbeiter von Campin gemalt - Rogier van der Weyden. Vielleicht war die schöne Dame Rogiers Ehefrau. Auf jeden Fall muss sie reich gewesen sein - denn um ihr Kopftuch so aufwändig zu falten, brauchte sie die Hilfe einer Dienerin.

Auch van der Weyden ist von Details besessen: die Nadeln, mit denen die Flügelhaube festgesteckt ist - die zarte Haut der Frau, die durch das Tuch schimmert - die Hände mit perfekt gearbeiteten Fingernägeln. Aber die Dame zeigt noch mehr Charakter als der feiste Mann: sie schaut uns mit offenem, freundlichem Blick direkt an. Menschen als Individuen - Vorboten eines neuen Zeitalters: der Renaissance.

Im Laufe der Jahre überflügelt van der Weyden alle seine Kollegen. Der Gelehrte Nicolaus Cusanus nennt ihn "maximus pictor", den "größten Maler" seiner Zeit. Vor allem kann Rogier mit seinen Bildern Geschichten erzählen wie kein Zweiter.

Auf diesem Altar aus dem Jahre 1455 stellt er das Leben Johannes des Täufers dar. Die Geschichte beginnt ganz links. Wir betreten einen Raum, zusammen mit zwei Frauen. Sie sind wohl Hebammen, denn innen liegt die heilige Elisabeth im Wochenbett. Im Vordergrund ihr Baby in den Armen der Gottesmutter Maria. Neben ihr Zacharias - mit Stummheit geschlagen, bis er den Namen seines Sohnes aufschreibt: Johannes.

Im Mittelpunkt des Altarbildes: die Taufe Christi dreißig Jahre später - die wichtigste Aufgabe von Johannes in der Heilsgeschichte. Im Himmel erscheint Gottvater mit den Worten: "das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören!" Zwischen ihm und Christus die Taube des Heiligen Geistes.

Die dritte Tafel zeigt Johannes' grausames Ende: von ihrer Mutter Herodias angestachelt, hat ihn Salome köpfen lassen. Sie und der Henker wenden sich von ihrer Schandtat ab. Am Ende des Korridors präsentiert schließlich Salome das Haupt des Johannes ihrer Mutter. Ganz rechts führt der Weg wieder hinaus in die Landschaft.

Wie Jan van Eyck versetzt auch Rogier van der Weyden die biblischen Gestalten in seine eigene Welt. Wieder bildet gotische Architektur den Rahmen. Die gemalten Reliefs ordnen die Szenen in den biblischen Zusammenhang ein, und zwar chronologisch von links nach rechts: vom Engel, der Zacharias die Geburt eines Sohnes verkündigt - über die Geburt Christi - bis zum Tanz der Salome.

Die Berliner Galerie besitzt die weltweit größte Sammlung von Rogiers Bildern. Er gilt als Begründer der altniederländischen Malerei, zusammen mit Jan van Eyck und dem Meister von Flémalle. Sie alle suchen Gott in der irdischen Welt. So stellt van der Weyden selbst den Körper von Jesus erstaunlich naturgetreu dar. Dahinter eine weite Flusslandschaft... Menschen am Ufer... das Gebirge in der Ferne... Reflexionen im Wasser - all das ist nicht nur Beiwerk, sondern Gottes Schöpfung, Zeichen seiner Größe.

Trotzdem aber bleiben die drei Niederländer immer dem späten Mittelalter verhaftet. Vor allem die Zentralperspektive hat keiner von ihnen je angewendet - sie wird die größte Errungenschaft der Malerei in der Renaissance.