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Venezianische Ansichten im Grauen Kloster

Im Jahre 1751 bekommt der Rektor des Berliner Gymnasiums zum Grauen Kloster einen Brief aus Italien. Ein gewisser Sigismund Streit, erfolgreicher Kaufmann in Venedig, möchte dem Gymnasium ein großes Barvermögen, seine Bibliothek und seine Kunstsammlung schenken.

Streit war selbst im Grauen Kloster zur Schule gegangen. Nach dem Tod seiner Eltern war er erst nach Hamburg gezogen und später völlig mittellos zu Fuß über die Alpen gewandert - bis nach Venedig. Jetzt, über vierzig Jahre danach, setzt er sich als wohlhabender, hoch angesehener Mann zur Ruhe - und erinnert sich an seine alte Schule. Streit hat seine Bilder nicht systematisch gesammelt, sondern nach persönlichem Geschmack. Seine besondere Liebe gilt der Republik Venedig, der er so viel verdankt. Und diese Liebe möchte er den Schülern in seiner alten Heimat vermitteln. Deshalb gibt er eine Serie von Gemälden in Auftrag. Diesen Auftrag bekommt nicht irgendein Maler: Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, ist der angesehenste aller Vedutenmaler. Für Streit hält er die Orte seines langen, erfolgreichen Lebens in Venedig fest.

Streit wohnt im Palazzo Foscari, auf dem Bild gleich im Vordergrund. Durch die Perspektive wirkt er noch größer und eindrucksvoller als in Wirklichkeit. Den liebsten Aufenthaltsraum des Kaufmanns hat Canaletto mit einem weißen Vorhang hervorgehoben.

Der Palazzo steht an einer der schönsten Stellen der Stadt. Gleich vor dem Haus legt die Fähre ab, quer über den Canal Grande hinüber zum Fischmarkt. Der Markt hat gerade geschlossen, die Händler räumen auf, putzen und plaudern, bevor sie nach Hause gehen. Von hier muss Streit nur durch die Häuser hindurchgehen, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen: zum Campo di Rialto.

Hier ist das Geschäftszentrum Venedigs. Unter den Arkaden sitzen im "Porticato del Banco Giro" die Beamten der Staatsgirobank. Auch Streit hat hier jahrzehntelang Geschäfte gemacht. Auf dem Platz treffen sich Orient und Okzident. Venezianische Kaufleute in ihrer schwarzen Tracht - Armenier in langen Gewändern - Juden mit ihren roten Kappen. In der Mitte des Platzes begutachtet ein Käufer Hausrat, daneben gibt es Fleisch und Gemüse. Ganz links sitzen die Goldschmiede unter ihren Ladenschildern. Selbst auf den Dächern der Häuser wird gearbeitet.

Auch die beiden Nachtbilder zeugen von Streits Liebe zu Venedig. Sie zeigen die Patronatsfeste von zwei Kirchen, San Pietro und Santa Marta. Besonders gefällt Streit, wie einfache Fischer und reiche Bürger zusammen feiern - und auch miteinander tanzen. Zwar beschwerte er sich, dass Canaletto das Treiben auf dem Wasser vernachlässigt habe: auf See müssten viel mehr Schiffe zu sehen sein. Aber dafür war er begeistert davon, wie Canaletto die Nacht dargestellt hatte. Überall wird das Licht von Mond, Sternen und Fackeln reflektiert. Dabei bestehen Gesichter der Personen oft nur aus Punkten - erst aus der Entfernung entfalten sie ihre Wirkung.

Die vier Bilder gehören zu Canalettos größten Meisterwerken. Einst hat er als Kulissenmaler am Theater angefangen. Im Alter malt er nur noch wenig - aber obwohl er schon über sechzig ist, zeigt er von 1758 bis 1763 für Streit die Stadt in wunderbar harmonischen Farben und zugleich mit unübertroffener Präzision, bis hin zu den Reflexionen im bewegten Wasser.

Doch auch Canaletto nimmt sich künstlerische Freiheiten: vom Standpunkt des Malers aus wäre die Rialto-Brücke in Wirklichkeit gar nicht zu sehen - wohl aber von Streits Wohnung. Canaletto kombiniert also zwei verschiedene Perspektiven: er bildet nicht das reale Venedig ab, sondern die Welt von Sigismund Streit.

Fast zweihundert Jahre lang hingen die Veduten Canalettos in der Aula des Grauen Klosters. Noch heute gehören sie der Streitschen Stiftung - sie sind als Leihgaben in der Gemäldegalerie. Mit seiner Stiftung wollte Streit, der selbst einst die Schule abgebrochen hatte, vor allem zur Erziehung der Berliner Schüler beitragen. Damit nahm er das Bildungsideal vorweg, das im neunzehnten Jahrhundert die preußischen Museen prägen sollte.