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Den Teufel mit Tinte bekämpfen:
Luther auf der Wartburg

Am Abend des 4. Mai 1521 ist ein Mönch in der Nähe des Schlosses Altenstein unterwegs, 25 km südlich der Wartburg. Müde hängt er seinen Gedanken nach. Martin Luther lebt gefährlich: Anfang des Jahres hat Papst Leo ihn, den Theologie-Professor, aus der Kirche ausgeschlossen. Jetzt kommt er vom Reichstag zu Worms, wo er seine Kritik an der Kirche zurücknehmen sollte. Aber er war standhaft geblieben, hatte nichts widerrufen - und es nun auch mit dem Kaiser verdorben. Jetzt ist er vogelfrei, jederzeit kann es ihm an den Kragen gehen.

Und tatsächlich: plötzlich sprengen bewaffnete Reiter aus dem Gebüsch und stürzen sich auf Luther. Der aber bleibt überraschend ruhig. Er weiß: die Entführung ist inszeniert. Tage vorher schon hat er an seinen Freund Lucas Cranach geschrieben:

"Ich laß mich eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht wo. [...] Es muß ein klein Zeit geschwiegen und gelitten sein."

Luther erfährt bald, wohin er gebracht wird. Sein Landesherr aber, Kurfürst Friedrich der Weise, weiß das wohl nicht - obwohl er doch Luther verstecken ließ. ‚Sagt mir niemals, wohin ihr ihn bringt', soll er seinen Soldaten befohlen haben. So kann er - wie einst Graf Ludwig der Springer - guten Gewissens vor dem Kaiser einen Eid schwören. Er weiß ja wirklich nicht, wohin der Reformator veschwunden ist!

Zehn Monate lang lebt Luther unter dem Decknamen "Junker Jörg" in der kleinen Stube im ersten Stock der Vogtei. Sie ist eigentlich ein "Kavaliersgefängnis", eine Zelle für vornehme Gefangene - und genauso fühlt sich Luther auch. In Briefen klagt er über Einsamkeit, Trübsinn und schlechte Verdauung.

Selbstzweifel quälen ihn: Hat er Gott richtig verstanden? Viele Menschen bejubeln seinen Kampf gegen die unverschämten Forderungen der Ablasshändler. Aber hat er damit nicht die Kirche entzweit? Tausend Dämonen verfolgen ihn in schlaflosen Nächten. Luther sitzt am Schreibtisch, die Füße auf dem Wirbel eines Wals, der ihm als Schemel dient, und wehrt sich mit unermüdlicher Arbeit. Er will "den Teufel mit Tinte bekämpfen."

Auch dieser Satz wird zur Legende: eines Nachts, erzählt man sich, erscheint ihm bei der Arbeit der Teufel selbst. In heiligem Zorn wirft Luther sein Tintenfass nach ihm. Noch Jahrhunderte später ist neben dem Ofen der Fleck zu besichtigen, den die Tinte hinterlassen haben soll. Kein Wunder: bis in Hugo von Ritgens Zeit wird er extra für die Besucher regelmäßig nachgemalt. Einen wahren Kern aber hat auch diese Legende: wie viele seiner Zeitgenossen hat Luther tatsächlich zeitlebens Angst vor dem Teufel.

Vierzehn theologische Schriften verfasst Luther im ersten halben Jahr auf der Burg, ehe er im Herbst 1521 das größte Werk anpackt: die Übersetzung des Neuen Testaments. Er ist nicht der erste - es gibt schon vier niederdeutsche und sogar vierzehn hochdeutsche Übertragungen. Aber Luther übersetzt zum ersten Mal direkt aus der "Septuaginta", dem griechischen Urtext der Bibel. Den üblichen lateinischen Text, die "Vulgata", benutzt er nur als Referenz.

Vor allem aber will Luther, wie er es ausdrückt, "dem Volk aufs Maul schauen." Er schreibt so, dass endlich auch einfache Leute die Bibel verstehen. Dazu erfindet er Ausdrücke, die den Text lebendig und anschaulich machen: Worte wie "Feuertaufe", "Schandfleck", "Lückenbüßer" und "Lockvogel", und Metaphern wie "Perlen vor die Säue werfen", "etwas ausposaunen", "im Dunkeln tappen" und "ein Herz und eine Seele" ebenso wie den "Wolf im Schafspelz".

Als sein Neues Testament gedruckt wird, ist es auf Anhieb ein Bestseller. In nur drei Monaten werden dreitausend Stück verkauft - damals fast unvorstellbar. Die Bibel wird zum Volksbuch. Und Luther hat zum ersten Mal eine einheitliche Sprache für ganz Deutschland definiert. Bis heute sind seine geflügelten Worte allgegenwärtig.

Am 1. März 1522 verlässt Martin Luther die Wartburg und kehrt nach Wittenberg zurück. Inzwischen kommen auch Kaiser und Papst nicht mehr gegen seine Ideen an. Die Reformation hat ihren Siegeszug angetreten.

Schon wenige Jahrzehnte später besuchen die ersten Pilger auf Luthers Spuren die Wartburg. Seitdem haben Millionen von Menschen die kleine Stube mit heiligem Schauer betreten - und offenbar schon vor vierhundert Jahren mit Taschenmessern. Die Burg wird zur Pilgerstätte - politische Bedeutung aber hat sie nicht mehr.